Immer mal wieder werde ich als Coach und Supervisor in Kassel gefragt, was die systemische Sichtweise in Coaching und Beratung denn nun genau ist. Das ist gar nicht so leicht zu beantworten, denn die systemische Sichtweise bezeichnet kein in sich abgeschlossenes, einheitliches Theoriegebäude. Sie ist eher zu beschreiben als ein allgemeines wissenschaftliches Paradigma, das heterogene Denkansätze aus unterschiedlichen Disziplinen umfasst.
Der konzeptionellen Entwicklung der (psychotherapeutischen) Beratung hat das systemische Denken eine neue Sichtweise hinzugefügt, die sich durch folgende charakteristische Akzentverschiebungen darstellen lässt:
1) Vom individuellen Symptom zum sozialen System
Ein individuelles Symptom wird nicht als Wesensmerkmal gesehen, dass eine einzelne Person „hat“, sondern als Geschehen, an dem viele verschiedene miteinander agierende Menschen beteiligt sind.
2) Von der Deutung zu Hypothesen und Möglichkeiten
Grundlegend für systemisches Denken ist die konstruktivistische Idee, das „Wirklichkeit“ keine objektive Beschreibung der Welt ist. „Wirklichkeit“ ist vielmehr eine soziale Konstruktion, d.h. eine Einigung eines bestimmten sozialen Systems auf eine spezifische Beschreibung der Welt.
Ein gegebenenfalls daraus resultierendes Problemerleben ist im Beratungskontext nicht zu deuten (was auch sinnlos wäre), sondern der Rahmen der durch die jeweilige soziale Konstruktion aufgespannt wird, soll erweitert (sowie ggf. dekonstruiert) und ein Möglichkeitsraum aufgespannt werden.
3) Von Blick auf die Vergangenheit zum Blick auf Gegenwart und Zukunft
Systemisches Denken unterscheidet sich grundlegend von psychotherapeutischen Verfahren, die die Ursache von Problemen der Gegenwart in Ereignissen der Vergangenheit zu erklären versucht. Stattdessen geht es darum, für die Zukunft Gestaltungsmöglichkeiten zu ertwickeln.
4) Von der objektiven Beobachtung zur Kybernetik 2. Ordnung
Realität kann nicht unabhängig vom Beobachter erkannt werden, sondern Beobachter/Beobachterinnen sind Teil der Beobachtung. „Mit unseren Konzepten und Ideen erschaffen wir jene Wirklichkeit, die wir ‚draußen‘ vorzufinden glauben.“
5) Vom Problem zu den Ressourcen zu der Lösung
Systemisches Denken versucht auch hinter scheinbar destruktivem Verhalten einen konstruktiven Beitrag zu finden und sensibel zu seine für die Möglichkeiten, die in dem jeweiligen System liegen. Deshalb wird schwerpunktmäßig nach Ressourcen gefragt und versucht darin Ansatzpunkte für neue Lösungen zu finden.
6) Von der zielgerichteten Intervention zur Selbstorganisation
Lebende und soziale Systeme werden als selbstorganisiert angesehen und sind deshalb nicht zielgerichtet zu steuern. In einer Beratungssituation geht es deshalb darum, durch Kommunikation den Rahmen so zu gestalten, dass der Supervisand „anregungsoffen für Zufälle ist […] und die Gelegenheiten häufiger kommen, als sie von selbst kommen würden.
7) Von der linear-kausalen Denkweise zur Zirkularität
In sozialen Systemen sind Interaktionen nicht im Sinne von Ursache und Wirkung, also linear-kausal verknüpft, sondern die Systemkomponenten sind in Wechselwirkungen aufeinander bezogen. Deshalb spricht man von Zirkularität.