In grauer Vorzeit:
Als Bento kurz nach Sonnenaufgang aus seiner Höhle tritt, hört er ein lautes Knacken. Keine drei Meter von ihm entfernt bewegen sich die Blätter am Busch. Erschrocken hält Bento inne: Ein Säbelzahntiger? Bereit, ihn anzugreifen? Sofort tritt Bento einen Schritt zurück, greift nach dem Speer und nimmt eine kauernde Stellung ein. Seine Herzfrequenz hat sich innerhalb von Sekundenbruchteilen verdoppelt, der Blutdruck ist gestiegen. Sein Körper hat blitzschnell Cortison, Adrenalin und Noadrenalin ausgeschüttet, um Bento bereit zu machen, auf die Gefahr zu reagieren. Seine Muskulatur ist stark durchblutet und angespannt. Die Gerinnungsfähigkeit seines Blutes ist erhöht, um auf etwaige Verletzungen vorbereitet zu sein. Bento ist bereit: Angriff oder Flucht.
Rund 10.000 Jahre später:
Simone Stöber erlebt eine ganz ähnliche körperliche Reaktion, als sie den Telefonhörer auflegt: Kortisonausschüttung, Adrenalinanstieg, hoher Pulsschlag. Nicht die Angst vor einem Säbelzahntiger, sondern die Nachricht ihrer Kollegin, hat ihren Stresspegel erhöht: Die Verwirklichung ihres wichtigsten Bauprojektes ist gefährdet. Aufgrund dieser Nachricht gehen bei Simone Stöber alle Alarmglocken an: Sie muss sofort aktiv werden und das Projekt retten.
Auch wenn beide Situationen viele Jahrtausende auseinander liegen, ist die körperliche Reaktion sehr ähnlich: Der Körper wird in einen Alarmzustand versetzt, um die jeweiligen Herausforderungen zu bewältigen. Denn:
Fakt 1: Stress ist eine nützliche Reaktion des Körpers
Unser Körper hat eine „einprogrammierte“ Stressreaktion, die dafür sorgt, dass wir zu Höchstform auflaufen: In einer Bedrohungssituation oder bei einer besonderen Herausforderung, schüttet der Körper Stresshormone aus und so bekommen wir zusätzliche Energie zur Verfügung gestellt. Alle für eine akute Stress- oder Bedrohungssituation nicht relevanten Funktionen werden zurückgefahren (Magen-Darm-Funktion, Sexualtrieb, Immunfunktion). Durch diese Stressreaktion sind wir bereit, eine außergewöhnliche Herausforderung zu bewältigen.
Fakt 2: Ohne Entspannungsphase ist Stress extrem gesundheitsschädlich
Die körperliche Stressreaktion ist nützlich. Sie ist aber darauf ausgerichtet, dass wir in kurzen (!) Anspannungsphasen extrem leistungsfähig sind. Wenn unser Urmensch Bento den Säbelzahntiger vertrieben hat, setzt bei ihm die Entspannung ein: Der Pulsschlag verlangsamt sich, der Blutdruck sinkt und die Stresshormone werden abgebaut. Bentos Körper kann sich erholen.
Bei Simone Stöber sieht das etwas anders aus. Kaum hat sie mit der Rechtsabteilung geklärt, wie mit dem Einspruch gegen ihr derzeit wichtigstes Bauprojekt umgegangen wird, steht das Konfliktgespräch mit ihrer Mitarbeiterin an. Außerdem muss bis 17 Uhr noch die Präsentation für das Meeting fertig werden. Privat beschäftigt sie dann auch noch die Suche nach einem guten Heimplatz für ihre Mutter, die pflegebedürftig geworden ist.
Wenn die ursprünglich für Extremsituationen vorgesehene Reaktion des Körpers um den Menschen auf Flucht oder Angriff vorzubereiten zum Dauerzustand wird, dann hat das Konsequenzen. Durch diese ständige Beanspruchung ist Simone Stöbers Körper ständig im Alarmzustand. Stressbedingte Krankheiten sind die Folge: Autoimmunerkrankungen, Depression, Burn-out, Kreislauferkrankungen.
Fakt 3: Es gibt „guten“ und „schlechten“ Stress
Stress ist aber nicht gleich Stress: Wissenschaftler unterscheiden zwischen Eu-Stress („Eu“ ist griechisch und heißt „gut“) und Dis-Stress („Dis“ heißt „schlecht“).
Eu-Stress ist eine wünschenswerte Stressform, der wir uns freiwillig aussetzen und die wir genießen. Hans Selye, der Pionier der Stressforschung, hat Eu-Stress als die „Würze des Lebens“ bezeichnet. Eu-Stress erleben wir zum Beispiel, wenn wir
- als Fußballfan das Enspiel der Weltmeisterschaft sehen
- einer erfüllenden Tätigkeit nachgehen, die uns in einem Maß herausfordert, das unseren Fähigkeiten entspricht
- uns freiwillig für einen Bungee-Sprung entscheiden
Dis-Stress dagegen ist die negative Form von Stress. Der Stress, der uns krank macht. Permanenter Leistungs- und Zeitdruck beispielsweise ist eine weit verbreitete Form von Dis-Stress. Dis-Stress ergibt sich auch dann, wenn eine Herausforderung die eigenen Fähigkeiten übersteigt. Dis-Stress wird als Belastung empfunden.
Fakt 4: Arbeit ist nicht der entscheidende Stressfaktor
Stellen Sie sich vor: Sie fahren mit dem Zug zu einem wichtigen Termin. Aufgrund der Verspätung des Zuges wird es mit dem Anschlusszug knapp. Es kann deshalb sein, dass Sie zu dem wichtigen Termin sehr deutlich zu spät kommen.
Sie sitzen also in dem Zug und können gar nichts tun. Trotzdem steigt vermutlich bei Ihnen der Stresspegel, Sie werden nervös und angespannt.
Denn: Wenn wir eine Situation nicht kontrollieren können, dann löst das viel Stress aus.
Stresserkrankungen und Burnout sind deshalb nicht nur eine Sache von Spitzenmanagern, sondern ein alltägliches Phänomen.
Der Psychiater Prof. Dr. Manfred Spitzer sieht in fehlender Kontrolle sogar die zentrale Ursache von allem Stress. Er erklärt das anhand eines – aus tierschutzgründen fraglichen, aber trotzdem eindrücklichen – Experimentes mit Ratten:
In einem ersten Käfig sind Drähte über den Boden gespannt. Die Ratte in dem Käfig bekommt über diese Drähte Stromstöße verpasst. Vor dem Stromstoß leuchtet eine Lampe auf. Gelingt es der Ratte, rechtzeitig eine Taste zu drücken, dann bleibt ihr der Stromstoß erspart. Dies gelingt ihr oft, aber nicht immer.
In einem zweiten Käfig sitzt auch eine Ratte. Auch sie bekommt Stromstöße verpasst, hat allerdings keine Lampe und keine Taste, mit der sie dies verhindern kann. Ihr Käfig ist an den Käfig der ersten Ratte gekoppelt: Immer dann, wenn die erste Ratte nicht schnell genug ist, bekommt auch die zweite Ratte einen Stromstoß verpasst. Die zweite Ratte selbst kann überhaupt nichts tun, um die Stromstöße zu verhindern.
Welche Ratte hat nun mehr Stress?
Obwohl die zweite Ratte nichts tun muss und nicht mehr Stromstöße verpasst bekommt als die erste, hat sie deutlich mehr Stresshormone im Blut als die erste Ratte. Die Erklärung: Die Ratte im ersten Käfig hat die Situation einigermaßen im Griff, die Ratte Nummer 2 dagegen überhaupt nicht.
Gestresst sind wir vor allem dann, wenn wir die Kontrolle über eine Situation verlieren.
Fakt 5: Stress entsteht in drei Schritten
Der Stressforscher Albert Ellis hat ein Modell entwickelt, das sehr anschaulich beschreibt, wie Stress entsteht: Das ABC-Modell.
A – Activating Event, also die Situation, die den Stress auslöst
B – Beliefs, also die Gedanken über die Situation A. Das heißt, die Art und Weise, wie diese Situation interpretiert wird.
C – Emotional Consequence, also die Gefühle, die durch die Gedanken (B) ausgelöst werden.
Im einzelnen sieht die Entstehung von Stress also so aus:
(A) Eine potentiell stressende Situation
ist der Ausgangspunkt. Diese Situation kann ganz unterschiedlich aussehen:
Zum Beispiel: Bento sieht einen Säbelzahntiger
oder: Simone Stöber bekommt die Nachricht, dass ihr Bauprojekt gefährdet ist.
(B) Die Interpretation dieser Situation
Zum Beispiel: Bento denkt: „Der Säbelzahntiger hat es auf mich abgesehen, das ist nun eine gefährliche Situation für mich“;
Simone Stöber denkt: „Das ist derzeit das wichtigste Projekt meiner Abteilung. Der Chef hat es mir anvertraut. Ich will doch zeigen, dass ich es kann…“ .
Dabei gilt: Die gleiche Situation kann von verschiedenen Menschen ganz unterschiedlich interpretiert werden.
(C) Stressgefühl
Die Interpretation setzt dann die körperliche Reaktion in Gang und löst das Stressempfinden aus:
Bei Bento ist das eine ganz verständliche Todesangst, die ihn über Flucht oder Kampf nachdenken lässt.
Simone Stöber wird nervös und angespannt. Sie verspürt die innere Unruhe, dringend etwas tun zu müssen, um ihr Projekt zu retten.
Resumee
Stress ist also eine ganz natürliche Reaktion unseres Körpers, die den Sinn darin hat, uns für Herausforderungen fit zu machen. Anders als bei unseren Vorfahren, sind die Herausforderungssituationen für viele von uns aber so permanent, dass dem Körper die Erholungsphasen fehlen und die Gefahr von chronische Erkrankungen oder einem Burn-out steigen.
Deshalb ist es wichtig, dass wir uns Strategien überlegen, dieser Gefahr zu begegnen. Wenn Sie sich das ABC-Modell der Entstehung von Stress vor Augen führen, werden Sie sehen, dass es auch genau drei Ansatzpunkte gibt, um dem Stress zu begegnen. Wie das genau aussehen kann, werde ich im nächsten Blogartikel beschreiben.